Freitag, 24. Juni 2016

Ein Vormittag in Ljubljana, dann nach Bled

Ich wache kurz nach 5 Uhr auf, neben mir schläft Illa noch tief und fest. Heute ist der Tag unserer goldenen Hochzeit und ich denke an jenen Tag vor einem halben Jahrhundert, an all die Menschen, die nach der kirchlichen Trauung mit uns im fränkischen Schloss und Weingut Saaleck bei Hammelburg feierten. Wie viele von ihnen sind nicht mehr unter uns! Ich denke an meinen Vater, meine Schwiegereltern Seppl und Ziska Auerbach, die mir in Lohr ein zweites geborgenes Elternhaus boten, an meinen lieben Opa Karl Richter, an Onkel Rudi und Tante Klari, an ihren Sohn und Erben der Glockengiesserei Rudi junior, der nur wenige Jahre später mit seiner Frau Ida viel zu jung von uns ging. Ich sehe Rudi noch vor mir, wie er - typisch für seinen Charakter - mir strahlend einen wunderschönen Perserteppich überreichte, sich an meiner Begeisterung erfreute. Ich denke auch an Tante Loni und Onkel Leo, damals noch ein elegantes Paar in den besten Jahren und realisiere, dass
Morgendämmerung vor unserem Hotelfenster
es zunehmend einsam um einen wird, wenn man die goldene Hochzeit feiert. Im Fenster ein goldener Schein, ich stehe vorsichtig auf, hole die Kamera und schiesse ein Bild von der Morgenstimmung. Anschliessend gehe ich an den Computer, in der Mailbox finde ich eine Nachricht von unseren Nachbarn René und Maya, die sich mit ihrem Wohnwagen und ihrem grossen polnischen Hütehund auf einer ausgedehnten Skandinavienreise befinden, ich beantworte die Mail umgehend.

Gestern abend haben wir uns kurzerhand entschlossen, noch einen Tag im nahegelegenen alpinen Kurort Bled zu verbringen, der kleine See mit der romantischen Insel, auf der eine Kirche steht, ist eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten von Slowenien und bei unserer ersten Reise vor fast fünfzig Jahren hatten wir ihn nicht angesehen. Doch vorher wollen wir die schöne Stadt Ljubljana nochmals bei Tag besichtigen und so fahren wir nach dem Frühstück in die Stadt, finden einen Parkplatz längs der Promenade, die den Fluss begleitet.

Die Häuserfront der Altstadt entlang dem Fluss
Es ist eine exquisite Stadt mit vielen Kunstläden, Antiquitäten und Buchhandlungen, dazwischen Restaurants, wie man sie heute noch in Prag, Budapest oder Wien antreffen kann, kurz - die Habsburger haben deutlich ihre Spur zurückgelassen. Wieviel Leid hätte man Europa ersparen können, wenn dieses Oesterreich-Ungarn, ein Land, in dem man schon lange vor der EU ohne Pass von der Ukraine bis an die Adria reisen konnte, nicht im Gefolge des ersten Weltkriegs untergegangen wäre. Wie sagte der tschechische Historiker Frantisek Palacky in seinem Brief an den Fünfzigerausschuss in Frankfurt im Jahre 1848: "Wahrlich, existierte
Einer der vielen Antiquitätenläden
der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen. Diese Aussage eines tschechischen Historikers und Patrioten erfolgte kurz bevor der Nationalismus in Europa sich auszubreiten begann. Knapp 20 Jahre später erfolgte dann die erste Katastrophe mit der Schlacht von Königsgrätz, wo Oesterreich von Preussen besiegt und aus dem Deutschen Bund herausgedrängt wurde, um dann ein halbes Jahrhundert später endgültig von der Landkarte zu verschwinden. Mit dem Untergang der Donaumonarchie entstanden entlang der Donau eine Menge meist instabiler und schwacher Staaten, die den beiden mächtigen Nachbarn Deutschland und Russland nicht mehr Paroli bieten konnten und sukzessive zu deren Opfer wurden. Ich kann meinen Grossvater verstehen, der schwer am Untergang Altösterreichs litt und der diese Stadt liebte.

Tito - ein Versatzstück der Geschichte, zwischen Puppen und Kochbüchern
Wir schlendern weiter durch die kleinen Gässchen, Illa sucht einen Kamm, da sie ihren alten verloren hat und ich hätte Bedarf nach einem Haarschnitt, doch die von uns besuchten Läden haben nicht den
Bauernmarkt in Ljubljana
passenden Kamm bzw. keinen Termin für mich. Wir kommen zu einem grossen Bauernmarkt, der mit seinen leuchtenden Obst- und Gemüsesorten die meisten uns bekannten Märkte in den Schatten stellt, sogar den Markt in Mannheim. Es ist wieder ein heisser Tag, wir suchen den Schatten der Häuserzeilen und stillen den Durst mit einem Schwepps in einem pannonischen Cafe, welches zahlreiche ungarische Spezialitäten auf der Karte hat. Ich kann mich noch dunkel an unsere erste Reise vor fast 50 Jahren erinnern, die Stadt hat seither gewaltig an Strahlkraft gewonnen und Slowenien ist sicher das Land des ehemaligen Jugoslawiens, welches völlig in Mitteleuropa
Er ist wieder da - leider!
angekommen ist. Doch in einer der Zeitungen im Café sehe ich einen Musiker mit Stirnlocke und Chaplin-Bärtchen, der mich irgendwie an einen Mann erinnert, der in vielen Staaten des ehemaligen Ostblocks eine traurige Wiedergeburt erlebt, entsprechend dem blöden deutschen Bestseller dieser Saison: "Er ist wieder da!"

Gegen elf Uhr treten wir die Fahrt nach Bled an, es ist eine kurze Fahrt von knapp einer Stunde und auch keine Fehlinvestition, denn diese Autobahn werden wir morgen zur Fahrt nach Meran benutzen, welches wir zum nächstes und letzten Ziel unserer Reise erkoren haben. Die letzten paar Kilometer geht es auf
Vor unserem Fenster - die Insel mit dem Kirchlein
einer Nebenstrasse bergaufwärts, vom Ortseingang von Bled geht es dann abwärts und bald sehen wir im Hintergrund den See. Unser Hotel "Best Western Lovec" liegt nur zwei Blöcke von seinem Ufer entfernt, als wir auf den Balkon unseres Zimmers hinaustreten sehen wir über den Dach einer Mall den See mit seiner berühmten Insel direkt vor uns, zur Rechten wie ein Adlerhorst auf dem Hügel das Schloss von Bled.

Noch immer habe ich Bedarf für einen Coiffeur, denn meine Haare sehen inzwischen verboten aus, an der Reception erfahre ich, dass ein guter Salon im Wellnessbereich des
Wie ein Adlerhorst thront die Burg von Bled über dem Ort
grossen Hotels nebenan zu finden ist. Ich rufe dort an und bekomme einen Termin für 13 Uhr. Illa ist mit dem Resultat überraschend zufrieden, wir gehen zum Mittagessen in das Gartenrestaurant unseres Hotels und ich esse eine Krajnska Klobasa mit Apfel-Kohl-Salat, eine lokale Wurstspezialität.

Der Nachmittag ist noch jung und wir wollen noch etwas unternehmen. Wir laufen die paar Schritte zum See hinunter und finden eine Barke mit Baldachin mit einem kräftigen Slowenen als Bootsmann, der auf Kundschaft wartet. Wir sind seine ersten Kunden und bekommen einen Platz in der Mitte einer der beiden Bänke zugewiesen, welche zu beiden
Auf dem Weg zur Insel
Seiten des Boots angeordnet sind. Es dauert noch mindestens eine Viertelstunde bis das Boot mit 16 Personen gefüllt ist. Eine Afroamerikanerin, die als Letzte ins Boot steigt, bringt das Boot, nachdem sie sich auf unsere Seite gesetzt hat, ziemlich in Schräglage, sie wird vom Bootsmann gebeten, sich auf die andere Seite zu setzen. Wir sind eine internationale Gruppe, denn neben der Amerikanerin sitzt schräg gegenüber von uns ein altes japanisches Ehepaar, neben ihnen ein jüngeres mit einem kleinen Mädchen, direkt gegenüber von uns zwei junge Japanerinnen, eine davon sehr hübsch, die uns mit ihren Selfie-Stangen andauernd fast ins Gesicht fahren.
Zwei fleissige Japanerinnen machen dauernd Selfies

Die Fahrt zur Insel dauert gute 20 Minuten, unser Bootsmann kommt ganz schön ins Schwitzen, man spürt seine Kraft, wenn nach jedem seiner entschlossenen Ruderschläge das Boot einen kleinen Satz nach vorne macht. Langsam kommt die Insel näher, unser Bootsmann macht zuletzt eine Drehung um 180° damit wir über das Heck bequem auf das Pier steigen können. Die Insel ist bewaldet, der Weg hinauf zur Kirche bietet als Alternative eine steile Treppe oder einen längeren Fussweg. In Anbetracht unserer Kondition wählen wir den Weg und kommen etwas später bei der Kirche an. Auch hier haben die geschäftstüchtigen Slowenen natürlich einen
Illa läutet die Glocke
Ticketschalter aufgestellt, nachdem wir zwei Billette erworben haben, treten wir in die kleine Kirche ein. Vor dem Altar hängt ein Glockenseil von der Decke herunter, eine Japanerin gibt mir ihre Kamera und bittet mich um eine Aufnahme während sie am Glockenseil zieht. Da sie offensichtlich keine Erfahrung mit Glockenläuten hat, dauert es sehr lange bis dann endlich die ersten Bimmeltöne erklingen. Sehr zufrieden übernimmt sie wieder ihre Kamera und dann ist dann die Reihe an Illa und mir die Glocke in Schwingung zu bringen. Wenn man weiss wie dies zu geschehen hat - Illa hat als Mitglied der katholischen Pfadfinderschaft von Lohr bereits Glocken geläutet und ich hatte als Neffe eines Glockengiessers und Sohn eines Erfinders von Läutemaschinen schon in frühester Jugend viel mit der Materie zu tun - dann ist das Läuten sehr einfach. Man muss sich ganz einfach der Schwingungsfrequenz der Glocke anpassen, immer im rechten Moment am Seil ziehen, wobei man möglichst ein wenig hochspringt und das eigene Gewicht mit einsetzt. Uebrigens heisst es, dass derjenige welcher die Glocke läutet, einen Wunsch erfüllt bekommt. Als ich dies tue, denke ich mit aller Intensität an meinen Wunsch: weitere fünfzig Jahre sind leider nicht möglich, doch noch so viele Jahre wie möglich und in guter Gesundheit!

Socken in Sandale à la Japonaise
Draussen feiert eine Hochzeitsgesellschaft im kleinen Gartenrestaurant hinter der Kirche, wir schauen dem Treiben kurz zu, sehen dann, dass unser Bootsmann, der an einem Nebentisch sein Bier getrunken hat, aufgestanden ist. Er hatte uns 20 Minuten zur Verfügung gestellt und so wandern wir den abschüssigen Weg vorsichtig zum Boot herunter. Auf der Rückfahrt mache ich ethnologische Studien. Eine Eigenschaft, die spiessigen deutschen Touristen zugeschrieben wird, ist das Tragen von Socken in offenen Sandalen. Ich kann diese Sitte auch bei dem älteren, übrigens sehr eitlen Japaner konstatieren - er überprüft alle paar Minuten seine Frisur - denn auch er trägt Socken in seinen Sandalen, allerdings die japanische Variante, bei der jede Zehe gleich einem Handschuh ihr eigenes Futteral hat. Ich kann diesem Anblick nicht widerstehen und schiesse verstohlen ein Foto.

Gegen Abend wollen wir unser Hochzeitsjubiläum nochmals in einem Restaurant feiern, ich wähle das Restaurant Mlino, welches - laut Auskunft meines Smartphones - nur 800 m links am Seeufer von uns gelegen liegen soll. Also entschliessen wir uns zu einem Fussmarsch, die Sonne hat auch schon einiges von ihrer Strahlkraft verloren. Wir laufen zum Seeufer herunter, dann entlang schöner Hotels dem See entlang, nach einem guten Kilometer hören die Häuser auf und immer noch ist unser Restaurant nicht in Sicht. Da verliere ich die Geduld, wir laufen zum letzten Hotel zurück, wo ich Illa auf einem Stuhl vor dem Eingang zurücklasse. Den Weg zu unserem vor dem Hotel geparkten Hotel mache ich in Rekordzeit, wenig später stehe ich mit dem Auto vor Illa und kurze Zeit darauf sehen wir das Restaurant Mlino vor uns, ein schönes altes Haus mit einem grossen Gartenrestaurant, welches nur durch die Uferstrasse vom See getrennt ist.

Strukli, eine slowenische Spezialität
Illa wählt einen Schinkenteller, ich ein Wildgulasch mit "Strukli" einer slowenischen Spezialität. Das Gulasch, dem ich mit grossen Erwartungen entgegensah - im Internet sah ich einen kleinen Gulaschkessel, aus dessen Inhalt eine Paprikaschote hervorragte - enttäuscht, denn es ist in der Art der östlichen Küche mit sehr viel Einbrenn gemacht, sodass es weitgehend die Konsistenz von Mehlpapp hat. Hingegen sind die Strukli ein positives Erlebnis und rufen nach Imitation in unserer Küche. Dabei handelt es sich um eine Art Strudelteig, in den Frischkäse eingerollt wird. Der gebackene Strudel wird dann in Scheiben geschnitten, die mit Semmelbröseln und flüssiger Butter übergossen werden. Zu diesem Essen trinken wir jeder ein Glas Bier und tauschen Erinnerungen an unsere Hochzeit aus. Illa erzählt mir, dass wir noch am Abend den ersten Streit unserer Ehe hatten, ich soll damals im Zorn gesagt haben, meine Mutter sei mein weibliches Ideal. Wahrlich keine kluge Bemerkung an einem Hochzeitsabend, doch Illa meint auch, dass ich vielleicht durch sie provoziert worden sei, allerdings hat sie dies vergessen. Heute nach einem halben Jahrhundert muss man darüber lachen, es ist schön, dass wir zusammengeblieben sind und dass sie mein Ideal ist.

Im Hotelzimmer verspüren wir beide unheimlichen Durst. Obwohl bereits zehn Uhr vorbei ist, laufe ich schnell in die Mall herunter und kaufe bei dem Cafè, in dem wir am Nachmittag bereits ein Schweppes getrunken haben, zwei Halbliterflaschen mit dem örtlichen Lasko-Bier, wie alle Biere, die wir bisher auf dem Balkan bekamen, von vorzüglicher Qualität. Wir trinken das kühle Bier mit Genuss, ich suche im Internet ein Hotel in Meran, welches nahe bei den Gärten von Schloss Trauttmansdorff liegt, die Derek seiner Mutter bei einem Telefongespräch kurz vor der Abreise wärmstens ans Herz gelegt hat. Ursprünglich hatte ich nämlich geplant, einen Tag in Bozen zu verbringen, doch Meran ist das richtige Ziel, dort kann ich vielleicht eine Familienangelegenheit klären, doch davon später. Dann schlafen wir tief und fest.

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