Donnerstag, 23. Juni 2016

Aus dem Orient nach Mitteleuropa zurück

Nach den selbstgebastelten Morgenmahlzeiten in unserem Dubrovniker Appartement bekommen wir heute ein feudales Frühstück mit einem Buffet nach der Tradition guter US-Hotels. Am Nebentisch sitzen drei junge Amerikanerinnen, zwei von ihnen sichtlich schwanger, umgeben von einer Vielzahl kleiner Kinder, eines davon afro-amerikanisch. Wir rätseln beim Essen über ihren Familienstatus, es
Steinige Abhänge mit spärlichem Buschwerk
könnten sowohl drei unternehmunslustige Freundinnen sein, die ohne ihre Ehemänner einen Urlaub machen, die zweite Möglichkeit, dass ihre Männer irgendeinen Kongress in Mostar besuchen und die dritte - eine der drei sieht reichlich maskulin aus - dass wir es mit alleinerziehenden Lesben zu tun haben.

Als wir aus der Tiefgarage herausfahren, brennt die Sonne schon sengend auf die Strasse, wir schalten sofort die Klimaanlage ein. Die Fahrt führt wieder in langgezogenen Serpentinen durch hügeliges Gebiet, zu beiden Seiten kahle Berge. Plötzlich erscheint ein Schild mit dem Namen "Medugorje" und sofort
Die Kathedrale von Medjugorje
fällt mir ein, dass es sich hier um den jüngsten der berühmten Wallfahrtsorte nach Lourdes und Fatima handelt. Ich kann mich momentan nur erinnern, dass der Status dieses Orts umstritten ist, auch hier gibt es eine Quelle, der ähnlich der Quelle Masabielle in Lourdes eine heilende Wirkung zugeschrieben wird. Wir entschliessen uns spontan, die 7 km auf der Nebenstrasse zu investieren, um diesen neuesten der grossen Pilgerorte zu besuchen.

Die Strasse führt mit vielen Kurven hinunter in ein Tal, dann kommen die ersten Häuser, die meisten erst kürzlich gebaut, dann eine Art Boulevard, bestückt mit Andenkenläden,
Kurzer Blick ins Innere der Kathedrale
welche die üblich geschmacklosen Waren von Wahlfahrtsorten anbieten, die später auf den Vitrinen frommer Gläubiger landen, Rosenkränze, Heiligenbilder, gläserne Halbkugeln mit der Kirche und künstlichem Schneefall. Im Hintergrund dann eine moderne Kirche, etwas hinter ihr finden wir einen gigantischen Parkplatz, auf dem neben vielen Autos auch zahlreiche Busse parkieren. Es ist der Morgen eines normalen Wochentags und trotzdem wartet eine Menschentraube vor dem Seiteneingang der Kathedrale, aus dem Inneren schallt Gesang. Wir wollen uns das trotzdem ansehen und wählen den Haupteingang an der Vorderseite, dort mache ich kurz ein Foto und dann kehren wir wieder zu unserem Wagen zurück, leiden schon auf dem kurzen Weg unter der Hitze.

Als ich am Abend "Medjugorje" google, erhalte ich die folgenden Informationen: der Ort erreichte internationale Bedeutung in den 1980er Jahren, als Jugendliche von Marienerscheinungen berichteten, die jedoch weder vom Vatikan noch von den lokalen Bischöfen anerkannt werden, von Papst Franziskus steht eine endgültige Stellungnahme noch aus. Eine "Seherin" namens Ivankovic-Mijatovic übermittelt laufend Botschaften der Gottesmutter, eine in ihrem Besitz stehende Statue leuchtet im Dunkeln, was immer noch zehntausende Gläubige anzieht, obwohl der kroatische Chemiker Pavle Mocilac die leuchtende Substanz aufgrund des Farbsprektrums als Leuchtfarbe auf der Grundlage von Strontiumaluminat identifiziert hat. Ungeachtet der Ablehnung durch die Amtskirche wird dieser jüngste Wallfahrtsort jedes Jahr von über einer Million Pilger besucht, die neben Bosnien vorwiegend aus Kroatien aber auch Italien und Oesterreich stammen.

Eine wenig gastfreundliche Raststätte
Endlos zieht sich die Strasse hin, die Autocesta A1, auch "Dalmatinska Autocesta" genannt, ist die längste und wichtigste Verkehrsader, welche die Orte an der Adria mit Zagreb verbindet. Gegen Mittag machen wir Halt an einer der vielen Raststätten, welche hier "Odmoriste" heissen. Schon der kurze Weg vom Auto bringt uns ins Schwitzen und die Kühle im Verkaufsraum der Raststätte stellt einen krassen Unterschied dazu dar. Leider sehen wir, dass der Seitenflügel mit der Imbissecke durch Bänder abgetrennt ist, wir erfahren, dass die Bar geschlossen ist, obwohl man einen Mann hinter dem Tresen hantieren sieht. Also kaufen wir uns resigniert zwei Sandwiches, die besonders frisch sind, denn sie werden eben durch zwei Männer aus einem Kühlcontainer in die Regale geschichtet. Dann eine Episode welche uns zeigt, dass in Bosnien-Herzegowina immer noch Reste osteuropäisch-kommunistischer Mentalität vorhanden sind, ganz im Gegensatz zu den geschäftstüchtigen Kroaten und Slowenen, die in Punkto Geldmacherei bereits sehr weit in Mitteleuropa angekommen sind. Als ich zahlen will, weist der Mann an der Kasse meine Karte zurück, er könne momentan keine Sandwiches ausgeben, da diese infolge der soeben erfolgenden Lieferung noch nicht ins System eingebucht seien. Als ich ungehalten zu Illa sage, dass wir in diesem Falle die Sandwiche wieder in die Vitrine stellen um zur nächsten "Odmoriste" zu fahren, kann er plötzlich meine Karte annehmen. Jedoch in Punkto Bar bleibt er unbarmherzig, alle meine Vorhaltungen, auch die Proteste einheimischer Autofahrer, prallen an dem Mann ab. Er will uns nicht ein Mal erlauben, unsere Brote an einem der Tischchen zu verzehren, wir müssen nach aussen, wo wir hinter dem Gebäude in seinem Schatten ein Tischchen finden, wo die Temperatur ein wenig niedriger ist. Wir beeilen uns die Sandwiches zu verspeisen, spülen sie mit "Mineralni Voda" herunter. Dabei fällt mir ein dummer Witz ein, den ich ein Mal gehört habe. Sagt ein Mann: "es war schrecklich, die Temperatur betrug 40°C im Schatten!" Sagt darauf sein Kollege: "Idiot, warum musst Du denn im Schatten stehen?" Etwas später passieren wir die Grenze zu Kroatien, diesmal ohne Probleme.

Richtung Zagreb wird die Landschaft "mitteleuropäischer"
Langsam nähern wir uns Zagreb und plötzlich bemerken wir, dass die orientalisch anmutende Landschaft mit ihren steinigen mit Trockenbüschen bewachsenen Bergen zunehmend mitteleuropäischer wird, grüne Hügel mit dichten Wäldern, manchmal von einem Schloss gekrönt, in den Tälern saftige Wiesen, die mit kleinflächigen gepflegten Feldern abwechseln. Ein krasser Gegensatz zu der Landschaft um Mostar, wo man zwischen den Ortschaften oft viele Kilometer in der trockenen Wildnis kein Haus sah. Gegen vier Uhr passieren wir die Ausfahrt nach Zagreb. Wir wechseln nun auf die Autobahn A2, welche direkt zu unserem heutigen Tagesziel
Vor uns liegt Slowenien und damit die EU
Ljubljana führt, bereits wenige Kilometer hinter Zagreb überqueren wir die Grenze nach Slowenien und haben das Gefühl, dass wir uns mit einem Mal in einem Teil Oesterreichs befinden, denn sowohl die Bauart der Bauernhäuser, der Kirchen und der vielen Schlösser erinnern an dieses Land und auch an die Tatsache, dass es viele Jahrhunderte ein integrierender Bestandteil der altösterreichischen Monarchie war. Uebrigens müssen wir auch - ähnlich wie in Oesterreich -
Eine fast österreichsch anmutende Szenerie
ein "Pickerl" an der Grenze erstehen, dies erspart uns die zahlreichen Zahlstellen, die sowohl in Kroatien wie auch Bosnien in regelmässiger Folge entlang der Autobahn auftauchten. Die Autobahn führt am Zentrum von Ljubljana vorbei, bis zu unserer Ausfahrt, neben der unser Hotel namens "G Design" liegt, sind es noch 7 km.

Das kleine Hotel sieht dann sehr ordentlich aus, als wir die Tür unseres Zimmers öffnen, liegt tatsächlich ein bis zum äussersten gestyltes Ambiente vor uns. Allerdings bekomme ich den Eindruck, dass die hier am Werk gewesenen Designer vor allem auf
Endlich am Tagesziel - Das G Design Hotel bei Ljubljana
Aesthetik und Ueberraschungseffekte und weniger auf Funktionalität geachtet haben, z.B. brauche ich einige Zeit, bis ich durch "trial and error" herausgefunden habe, dass man die oberflächlich mit der Oberfläche fluchtenden Beschläge zum Oeffnen der Schranktüren erst mit einem Finger einseitig hereindrücken muss, damit die untere Seite sich nach aussen schwingt, worauf man sie greifen kann. Im Badezimmer sehe ich zum ersten Mal Hähne, in denen das Wasser hinter dem Hahn in einer offenen Rinne nach vorne fliesst.

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Der Badezimmerkubus mit teilweisem Durchblick
Nach einer erholsamen Dusche machen wir uns landfein. Auch das Badzimmer entspricht modernem Design, denn es ist ein Kubus mit einem hohen Seitenfenster, welches züchtigerweise auf der Höhe der primären Geschlechtsmerkmale eine Blende in Form eines silbernen Kreises trägt.

Zwischenzeitlich habe ich im Internet das Restaurant "Spayza" im Herzen der Altstadt gefunden. Als wir auf die Autobahn auffahren, erinnere ich mich daran, dass die Anzeige, welche die Restmenge Diesel anzeigt, schon vor Erreichung des Hotels seit einiger Zeit gebrannt hatte. Mit ein wenig Missbehagen fahre ich auf die Autobahn, jedoch sind es nur wenige Kilometer bis zur Ausfahrt, welche zum Zentrum Ljubljanas führt. Trotzdem bin ich froh, als wir von der Autobahn herausfahren und sofort anschliessend eine Tankstelle finden. Eine solche Situation ist mir seit Jahrzehnten nicht mehr passiert, in den ersten Jahren unserer Ehe war ich sorgloser und zweimal ging mir damals sogar das Benzin aus, glücklicherweise nie auf einer Autobahn. Am Telefon hatte mir Mama gestern gesagt, mein Grossvater Ignaz Feichtinger hätte immer den Wunsch gehabt, nach seiner Pensionierung in Laibach ein Haus zu kaufen, um in dieser Stadt seinen Ruhestand zu geniessen. Leider hat das Schicksal dies nicht wollen, es kam der erste Weltkrieg und wenig später starb er frühzeitig.

Eine der Brücken über die Ljubljanica in der Altstadt
Als wir bei beginnender Dämmerung die Brücke über die Ljubljanica zur Altstadt überqueren, kann ich seine Vorliebe verstehen und erinnere mich gleichzeitig auch an unseren ersten Besuch in dieser Stadt vor fast 50 Jahren, als Illa mich auf einer Geschäftsreise begleitete. Ich sollte damals im Auftrag meines Chefs, Prof. Marincek von der ETH Zürich mit sog. "Saugkokillen" Proben zur Analyse des Wasserstoffs aus einem der Schmelzöfen des nahe bei Ljubljana liegenden Stahlwerks Ravne nehmen. Diese Saugkokillen waren eine Erfindung meines Vaters und erlaubten die damals
Schema Vakuumsaugkokille
genaueste Wasserstoffanalyse in Metallen. Sie bestanden aus einem vakuumevakuierten Metallzylinder, der vorne eine dünnwandige Stahlspitze trug. Wurde diese Spitze in flüssigen Stahl getaucht, schmolz sie durch und eine definierte Stahlprobe erstarrte präzisionsgegossen im Inneren der Kokille, wobei die Probe sich vorher automatisch dicht mit der Kokille verschweisste, sodass flüchtiger Wasserstoff, der bei üblichen Probenahmen verloren ging, bestimmt werden konnte.

Am Vorabend dieser Probenahme gab es einen momentan unangenehmen Vorfall, der aber im Rückblick umso komischer wirkt. Wir kamen spät abends an der damaligen Grenze Jugoslawiens an und der Zollbeamte wünschte zu wissen, was sich im Inneren der seltsamen Metallzylinder befände. Ich antwortete darauf "Vakuum". Der Beamte wollte keine weiteren Erklärungen sondern suchte in seinen Vorschriften, zu welchem Ansatz "Vakuum" zu verzollen wäre. Er fand natürlich nichts und verlangte, ich sollte einen der Zylinder zur Inspektion öffnen. Dann machte ich einen dummen Witz, obwohl jedermann weiss, dass man mit Beamten, insbesondere wenn sie spätabends gereizt sind und speziell, wenn es sich um Beamte eines kommunistischen Staats handelt, keine Spässe machen sollte. Ich sagte dem Mann, dass in dem Augenblick, wo ich den Zylinder öffnen würde, das "Vakuum" verschwunden sei, es würde sich mit jugoslawischer Luft füllen, also mit einem Produkt seiner Heimat, sodass eigentlich ein negativer Zoll fällig wäre, denn diese Ware sei erst in seinem Land dazugekommen. Er fand das gar nicht lustig und nur die Tatsache, dass ich die Telefonnummer des Stahlwerksdirektors Loize Presern bei mir hatte, dessen Autorität auch übers Telefon den Zöllner einschüchterte, rettete mich davor, dass meine Kokillen nutzlos wurden.

Die Altstadt hat das typische Aussehen einer altösterreichischen Provinzstadt, schöne Repräsentationsgebäude im k.u.k.-Stil, die typische gelbe Fassade mit zahlreichen allegorischen Figuren, Kirchen mit Zwiebeltürmen, prächtige Hotels längs der Parkanlagen entlang des Flusses. Kurz hinter der Brücke leitet mich das Navi in eine Nebenstrasse und einen Moment später ist die Fahrt zu Ende, die Strasse ist durch massive Rundstangen aus rostfreiem Stahl versperrt. Gerade als ich im Rückwärtsgang auf die Hauptstrasse zurück will, kommt ein Geländewagen vor der Sperre zu stehen, Sekunden später sinken die Stangen in den Boden und ich folge dem Wagen kurzerhand hinein in die Altstadt. Hinter einer Kurve plötzlich eine kleine Kreuzung, Tische mit fröhlichen Menschen am Strassenrand, eine Band spielt alten Jazz. Da das Navi mir anzeigt, dass wir nur noch wenige Meter vom Ziel entfernt sind, lasse ich Illa aussteigen, damit sie unseren vom Hotel aus reservierten Tisch besetzt. Glücklicherweise finde ich wenige Augenblicke später eine Parklücke am
Carpaccio von Jakobsmuscheln
Strassenrand, das "Spajza" liegt genau gegenüber. Es ist ein uraltes Lokal, erinnert mich mit seiner dunklen Täferung und den Möbeln wieder mal ein wenig an die spanische Bodega im Niederdorf. Durch mehrere kleine Zimmer gelangen wir in einen Innenhof, auf dem viele Tische stehen, unser Tisch liegt auf der Rückseite einer grossen Leinwand, auf der gerade eines der Spiele der EM gezeigt wird, man kann die Spieler sehr schwach und seitenverkehrt sehen. Das Essen ist dann ein einziges Gedicht, als ersten Gang gibt es Jakobsmuscheln und dann kommt ein perfekt gebratener Petersfisch. Wir konstatieren, dass ein gütiges Schicksal in Bezug auf die Qualität
Ein absolut köstlicher Petersfisch
von Meeresfrüchten uns auf dieser Reise begleitet hat. Dazu bekommen wir einen wundervollen slowenischen Weisswein, dem ich allerdings - in Hinblick auf die Rückfahrt zum Hotel - nur spärlich zusprechen kann. Zum Dessert bekomme ich eine Schokoladekugel, die sich - nach Uebergiessen mit einer Flüssigkeit - innerhalb von Sekunden ihrer Hülle entledigt und das schmackhafte Innenleben preisgibt. Die Rückfahrt ist dann problemlos, als wir zur Sperre kommen, ist es diesmal ein freundlicher Mann, der sie mit Hilfe seiner Karte für uns öffnet.
Die beiden Geniesser nach dem Essen

Im Hotel schalten wir den Fernseher ein, denn heute ist der Tag des Plebiszits in Grossbrittanien, die Engländer entscheiden über den "Brexit", d.h. ob sie die EU verlassen werden. Auf ARD läuft gerade eine Talkshow, die ersten Hochrechnungen sind bereits bekannt, sie deuten tendentiell auf eine geringfügige Mehrheit der EU-Befürworter hin. Irgendwie sind wir erleichtert, dass der Brexit nicht eintreten wird, denn damit würde eine Periode der Unsicherheit in Europa einsetzen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie die Stimmung in England sein wird, wenn das Land mit einer winzigen Mehrheit Mitglied bleibt. Es ist zu erwarten, dass die EU-Gegner, die bereits vor diesem Plebiszit mit brutalsten Mitteln und auch Lügengeschichten gekämpft haben, noch radikaler reagieren werden. Doch nun sind wir müde geworden und sinken in einen erholsamen Schlaf, der Tag und die Fahrt waren lange und der morgige Tag wird Gewissheit bringen, wie es mit Grossbrittanien weiter geht.

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